Referat auf der Bundeskonferenz der Internationalen Kommunisten Deutschlands am 27. 12. 1969
von M. W.
Die 1936 von Leo Trotzki gegründete Vierte Internationale stellt sich heute dar als die Menge von mindestens vier "internationalen" Tendenzen und einer Unsumme national isolierter Gruppen: das Vereinigte Sekretariat, das Internationale Komitee, die IV. Internationale von Juan Posadas und die Internationale revolutionär-marxistische Tendenz von Michel Pablo; daneben: Lutte Ouvrière in Frankreich, die P.O.R. von Guillermo Lora in Bolivien, die Partei von Nahuel Moreno in Argentinien, Edmund Samarakkoddy in Sri Lanka, und viele andere... Der organisatorische Zerfall stellt die Frage nach den politischen Ursachen. Wenn die Vierte Internationale nicht mehr als organisatorische Einheit existiert, heißt das dann, dass sie historisch gescheitert ist, dass ihre Proklamation ein Fehler war, dass ihr Programm der Prüfung durch die Geschichte nicht standgehalten hat?
I. Die Wurzeln
Die Vierte Internationale war aus der Kommunistischen Internationale hervorgegangen, im Gefolge einer langen Serie katastrophaler Niederlagen des Weltproletariats. Wohl hatten diese Niederlagen die Voraussagen der Bolschewisten-Leninisten und insbesondere ihre Anklagen gegen die verbrecherische Politik der stalinistischen Bürokratie Punkt für Punkt bestätigt; für die proletarischen Massen jedoch war die Strangulierung der chinesischen, deutschen, französischen und schließlich der spanischen Revolution "tausendmal bedeutsamer als unsere Voraussagen. Mit unseren Voraussagen können wir einige wenige Intellektuelle gewinnen, die an solchen Dingen Interesse haben, nicht aber die Massen." (L. D., April '39)
So entsteht die Internationale Linke Opposition, die internationale bolschewistisch-leninistische Tendenz in der kleinbürgerlich-intellektuellen Peripherie der stalinistischen Komintern. Die Vierte Internationale hat deshalb im Moment ihrer Gründung keine festen Wurzeln in der Arbeiterklasse.
Sie vertritt zwar, synthetisiert in den programmatischen Dokumenten ihrer Gründungskonferenz von 1938, die gesamte bisherige Kampferfahrung der Arbeiterklasse, ist aber selber von der Masse des Proletariats weitgehend isoliert. Ihre Aufgabe besteht darin, sozusagen von außen das Programm der proletarischen Weltrevolution in eine von unzähligen Niederlagen, vergeblichen Opfern und Verrätereien ihrer Führung erschöpfte und demoralisierte Arbeiterklasse hineinzutragen.
Sie befinden sich damit in einem schreienden Widerspruch: Während sie sich einerseits programmatisch auf dem derzeit höchstmöglichen Niveau des proletarischen Klassenbewusstseins konstituieren, fehlt ihnen jedoch andererseits nahezu jedliche organische Verbindung zu der Klasse, deren historische Interessen sie so präzis zu formulieren verstehen wie noch keine politische Formation vor ihnen. Unter allen politischen Strömungen ihrer Zeit verfügen sie über das konkreteste Programm für den proletarischen Klassenkampf im internationalen Maßstab - und finden doch keine unmittelbaren Möglichlkeiten vor, dieses Programm in klassenkämpferische Praxis umzusetzen.
So sind die ersten Jahre der Bewegung für die Vierte Internationale von einer fast ausschließlich propagandistischen Aktivität geprägt. Wohl durchläuft jede revolutionäre Gruppe zunächst einmal das Stadium einer reinen Propagandagesellschaft, wohl beginnt jede proletarisch-revolutionäre Tendenz als eine Gruppe von Intellektuellen, Halbintellektuellen und intellektualisierten Arbeitern, die mit den bestehenden Organisationen unzufrieden sind. Aber die bolschewistisch-leninistischen Gruppen finden bei ihrem Ausscheiden aus der Kommunistischen Internationale eine historische Konjunktur vor, die es ihnen zusätzlich erschwert, diese notwendige Entwicklungsetappe zu überwinden. Sie kämpfen gegen den Strom der Zeit, sie betreten die Arena des Klassenkampfs unter eigner Fahne in einer Epoche, die durch ein allgemeines Zurückfluten der Weltrevolution gekennzeichnet ist und in der die immer und immer wieder mit geheucheltem revolutionären Wortgeklingen irregeführten Arbeitermassen allen Grund haben, jedem kleinbürgerliche Intellektuellenhäuflein, das sich ihnen, wie so oft, als Führer anpreist, mit verdoppeltem und verdreifachtem Misstrauen zu begegnen.
Dass dieses Misstrauen auch gegenüber den Bolschwiki-Leninisten nicht ganz ohne Grund ist, wird ersichtlich, als deren französische Gruppe sich als unfähig erweist, die vorrevolutionäre Krise von 1936 zum Aufbau der proletarischen Avantgarde-Partei zu nutzen. Die Ursache dieser "vertanen Chance" (L. D.) ist nirgend anders zu suchen als in ihrer sozialen Herkunft und in der Unfähigkeit ihrer politischen Führer, mit den unbolschewistischen, disziplinlosen und individualistischen Gepflogenheiten kleinbürgerlicher Intellektuellenzirkel zu brechen. Deren Folge sind prinzipienlose interne Querelen, die die Organisation in der entscheidenden Phase paralysieren und daran hindern, ihrer Vernatwortung gerecht zu werden.
Als erster Versuch, die große Kluft zu überwinden, die sich zwischen dem gigantischen programatischen Anspruch der Bolschewiki-Leninisten auf der einen, und ihren nahezu nicht vorhandenen Möglichkeiten, diesen Anspruch in der Praxis des Klassenkampfs einzuholen, auf der anderen Seite aufgetan hatte; ein erster Versuch also der Proletarisierung der bolschewistisch-leninistischen Organisation durch ihre Verankerung in den proletarischen Massen, war der Eintritt der französischen, belgischen und nordamerikanischen Sektionen in die sozialdemokratischen Parteien ihrer Länder. Dieser "Entrismus unter entfaltetem Banner" gestattete es der französichen Gruppe zwar, innerhalb gut eines Jahres ihre Mitgliederzahl fast zu verfünffachen; jedoch handelte es sich zum großen Teil um junge, im Klassenkampf unerfahrene Arbeiter aus der sozialdemokratischen Jugendorganisation, die meist als einziges ideologisches Gepäck ihre Erfahrungen mit der Sozialdemokratie in die Organisation einbrachten. Sie waren ebensowenig mit den bolschewistischen Methoden des Parteiaufbaus und mit den Normen des demokratischen Zentralismus vertraut wie die alten Führer, und das Versagen der französischen Gruppe 1936 beweist hinlänglich, dass der Einfluss dieses unerfahrenen jungen proletarischen Elements bei weitem nicht hinreichte, um die kleinbürgerlich-individualistische Mentalität innerhalb der Organisation zu liquidieren. So sind die Errungenschaften auch dieser ersten, nicht-liquidatorischen Form des Entrismus durchaus ambivalenter Natur.
Auch nach der formelle Proklamation der Vierten Internationale im September 1938 stellt sich also das Problem des Klassencharakters der bolschwistisch-leninistischen Organisation ebenso dringlich, wie bneim Bruch der Bolschewisten-Leninisten mit der Komintern. Trotzki selber erkannte das so klar wie kein anderer, und ohne Übertreibung kann man seinen letzten großen politischen Kampf, den Kampf gegen Burnham-Shachtman in den USA, als den Kampf um den proletarische Klassencharakter der Vierten Internationale bezeichnete. Wenige Monate vor seiner Ermordung warnt er die amerikanische Sektion, die er doch selbst immer wieder als die ernsthafteste Partei innerhalb der ganzen Internationale bezeichnet hatte:
"Unsere Partei kann von nichtproletarischen Elementen überschwemmt werden und dabei sogar ihren proletarischen Charakter verlieren. Es geht ... darum, die gesamte Organisation auf die Fabriken hi n zu orientieren, auf die Streiks, auf die Gewerkschaften..." (L. D., In Defence of Marxism, 24. 1. 1940)
Und:
"Dem Klassencharakter der Partei muss ihre Klassenzusammensetzung entsprechen. Die amerikanische Sektion der Vierten Internationale wird entweder proletarisch werden oder zu bestehen aufhören!" (L. D., In Defence of Marxism; Brief an J. Burnham, 7. 1. 1940)
II. In der Perspektive des Weltkriegs
Wie konnte Trotzki bei einer dermaßen klaren und kritischen Einschätzung der Klassenzusammenset- zung der bolschewistisch-leninistischenBewegung, hoffen, sie könne mit einiger Aussich auf Erfolg den Kampf um Führung des Weltproletariats aufnehmen? Mußte nicht unterdiesen Bedingungen die Proklamation der Vierten Internationale alsproletarischer Weltpartei von Anbeginn als eine Fehlgeburt erscheinen? War also, wie zahlreiche ehemalige Anhänger Trotzkis damals und heute noch behaupten, die Gründung der Vierten Internationale 1938 ein Fehler?
Eine solche Fragestellung ist undialektisch, weil sie unhistorisch ist. Sie brücksichtigt nicht das bestimmende Moment jener Epoche des internationalen Klassenkampfs. Diese war, wie das unter dem Namen „Übergangsprogramm“ bekannte Hauptdokument der Gründungskonferenz klar ausspricht, voll und ganz von dem sich ankündigenden zweiten imperialistischen Weltkriegs geprägt.
Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg hatte seit 1934 die Achse des gesamten politischen Kampfes der kommunistischen Internationalisten ausgemacht. Ja der Kamf gegen den drohenden der Krieg wird für Trotzki und seine Anhänger geradezu zum entscheidenden Kriterium, durch das sich die die Revolutionäre von den sozialdemokratischen, stalinistischen, zentristischen und "anarcho-syndikalistischen" Verrätern abgrenzen.
Das Übergangsprogramm nimmt nicht nur - wie die Geschichte bewiesen hat, zu Recht - dem 2. WK als unvermeidlich an, sondern gründet die strategische Perspektive der neuen Internationale auf die - ebenso historisch bestätigte - Annahme, daß dieser Krieg wie der von l9l4/l8 zu einer internationalen revolutionären Krise führen müsse, in der sich das Problem der revolutionären Alternativ-Führung des Weltproletariats in neuer und verschärfter Aktualität stellen würde. Diese revolutionäre Nachkriegskrise sollte in der Perspek tive der Gründer der Vierten Interntionale das eigentliche Terrain abgeben, auf dem die Bolschewiki-Leninisten zum Kampf u die Führung antreten konnten.
Der Rekurs auf die Erfahrungen des ersten Weltkriegs und der Entstehung der Kommunistischen Internationale ist unverkennbar:
"Zu Beginn des Krieges warden die Sektionen der IV. Interntionale unvermeidlich in Isolierung geraten: Ein jeder Krieg trifft die Volksmassen unworhereitet und drangt sie auf die Seite des Regierdngsapparats. Die Internationalisten müssen gegen den Strom schwimmen. Jedoch werden die Zerstörungen und die Greuel des neuen Krieges, die bereit in den ersten Monaten die blutigen Schrecken von 19I4/l8 weit hinte sich lassen werden, die Massen sehr bald desillusionieren. Ihr Unmut und ihre Rebellion werden sprunghafte Fortschritte machen. Die Sektionen der Vierten Internationale werden sich an der Spitze der revolutionären Springflut wiederfinden. Das Programm der Übergangsforderungen wird eine brennende Aktualität erhalten. Das Problem der Machtergreifung durch das Proletariat wird sich in seiner ganzen Breite stellen."
Das Übergangsprogramm erhofft sich also vom kommenden Krieg nicht weniger als die Macht- ergreifung des Proletariats u n t e r d e r F ü h r u n g d e r V i e r t e n I n t e r n a t i o n a l e !!!
III. Der Härtetest
In historischen Ereignissen von solch universaler Tragweite wie ein Weltkrieg können auch kleine, von den Massen der Arbeiterklasse isolierte Gruppen eine entscheidende Bedeutung erhalten, können
sogar die Mehrheit der Arbeiterklasse unter ihrer eigenen Führung vereinigen und siegreich den Kampf um die Macht antreten - s o f e r n sie es verstehen, durch den kompromißlosen Kampf um die Reinheit der Fahne des proletarischen Internationalismus w ä h r e n d der imperialistischen Schlächterei das Vertrauen der proletarischen Vorhut zu erobern. Mit vollem Recht konnten sich Trotzki und die anderen Gründer der Vierten Internationale auf das Beispiel der Zimmerwalder Linken berufen, die an der Wiege der Kommunistischen Internationale und des ersten Arbeiterstaates der Geschichte gestanden hatte - umso mehr, als sie der neuen Internationale ein unvergleichlich solideres, unvergleichlich konkreteres Programm mit auf den Weg geben konnten, als es die ideologisch heterogene, ja geradezu verworrene Zimmerwalder Linke vermocht hatte.
Ein einziges, jedoch - wie sich zeigen sollte - zentrales Element in der Prognose, die das Gründungs-dokument der Vierten Internationale für den kommenden Krieg formuliert hatte, sollte vom realen Verlauf der Geschichte nicht bestätigt werden. Während die Gründer der neuen Internationale damit rechneten, daß sich der Stalinismus in den westlichen Ländern durch seinen Politik der "Vaterlandsverteidigung" ebenso gründlich diskreditieren müsse wie im ersten Krieg die Sozial- demokratie, daß der Krieg die inneren Widerspruche des bonapartistisch-thermidorianischen Regimes in der UdSSR bis hin zum Paroxysmus zuspitzen würde, daß insgesamt also der Stalinismus, wenn nicht gar völlig geschlagen, so doch schwer lädiert aus dem Krieg hervorgehen müßte, verschaffte in Wirklichkeit der militärische Sieg der Roten Armee über Hiter dem ersten Arbeiterstaat und – zunächst fast unvermeidlich – auch der Stalinschen Kamarilla neuen moralischen Kredit bei den durch den Krieg aufgerüttelten Volksmassen der Welt. So ging der Stalinismus unerwarteterweise nicht geschwächt, sondern beträchtlich gestärkt aus dem zweiten Weltkrieg hervor. Es fiel ihm mithin leichter als seinerzeit der Sozialdemokratie, seinen ideologischen Einfluß auf die Arbeitermassen zu konservieren und so erneut die proletarische Revolution in einer ganzen Reihe von Ländern zu erdrosseln.
Die objektiven Bedingungen, unter denen die Vierte Internationale in die revolutionäre Nachkriegskrise intervenieren mußte, wichen also in einem wesentlichen Punkt von der strategischen Perspektive ab, die die Gründungskonferenz formuliert hatte. Sie mußte den Kampf um die Führung der Arbeiterklasse unter schwierigeren Bedingungen als erwartet antreten – jedoch nichtsdestoweniger unter Bedingungen, die für den Einbruch wenigstens in relevante Teile der Arbeiterklasse in mehreren Ländern so günstig war wie nie zuvo und niemals danach
Wenn die Vierte Internationale selbst vor dieser weniger ambitiösen Aufgabe versagte, so kann dies nur damit erklärt werden, daß sie selbst keinen nennenswerten Beitrag zur Herbeiführung der Krise zu leisten vermocht hatte; Grundvoraussetzung dafür wäre nämlich, wie gesagt, ihr unversöhnlicher Kampf um die Reinheit der Fahne des proletarischen Internationalismus gewesen. Diesen Kampf hat sie jedoch in jenem Land verraten, das eine Schlüsselstellung in der revolutionären Nachkriegskrise in Europa einnehmen sollte: in Frankreich. Die gemessen an den Erwartungen ungünstigeren objektiven Bedingungen der Periode 1943-46 sind ihrerseits also mindestens teilweise auf das subjektive Versagen der Vierten Internationale zurückzuführen. Dieses subjektive Versagen hat seine Ursache freilich nicht etwa im Programm der Vierten internationale, sondern im Gegenteil in einem
o f f e n e n V e r r a t an diesem Programm!
Jahrelang hatten die Bolschewisten-Leninisten allein gegen praktisch alle anderen politischen Kräfte den i m p e r i a l i s t i s c h e n Charakter auch des kommenden Krieges behauptet, hatten sie korrekte, klassenmäßige marxistische Interpretation mutig gegen all jene verteidigt, die in dem kommenden Krieg einen Kampf "gegen den Faschismus" und für die "nationale Unabhängigkeit" sehen wollten, und noch das Übergangsprogramm stellt unmißverständlich fest:
"Die imperialistische Bourgeoisie beherrscht die Welt. Und eben deshalb wird der kommende Krieg seinem Grundcharakter nach ein imperialistischer Krieg sein. Der wesentliche Inhalt der Politik des internationalen Proletariats wird daher der Kampf gegen den Imperialismus und gegen seinen Krieg sein. Das Grundprinzip dieses Kampfes wird lauten: 'Der Hauptfeind steht im eigenen Land' oder 'Die Niederlage unserer eigenen (imperialistischen) Regierung ist das kleinere Übel.'"
Die Mehrheit der französischen Anhänger der Vierten Internationale (eine offizielle Sektion existierte nicht mehr - die prinzipienlosen Fraktionsquerelen der Kleinbürgerzirkel haben sie verschlissen) beeilt sich indessen, vor dem "patriotischen" Flügel der eigenen Bourgeoisie zu kapitulieren:
"Die französische Bourgeoisie hat sich in eine Sackgasse verlaufen: Um sich vor der Revolution zu retten, hat sie sich Hitler in die Arme geworfen. Um sich aus dieser Umarmung zu retten, bleibt ihr nur die Möglichket, sich in die Arme der Revolution zu werfen. Wir sagen nicht, daß sie das frohen Herzens tun wird, noch daß diejenige Fraktion der Bourgeoisie, die zu einem solchen Spiel imstande wäre, die bedeutendste ist: Die Mehrheit der Bourgeoisie erhofft heimlich ihr Wohl von England; eine starke Minderheit erhofft es von Hitler. Es ist die französische Fraktion der Bourgeoisie, der wir die Hand entgegenstrecken. ...
Unsere Politik ... muß vor allem auf jene Fraktion der Bourgeoisie ausgerichtet sein, die vor allem französisch sein will, die weiß, daß sie das Wohl Frankreichs nur von den Volksmassen erhoffen darf, die imstande ist, eine kleinbürgerliche nationalistische Bewegung hervorzubringen, die imstande ist, die Karte der Revolution auszuspielen (Revolution von rechts oder von links oder vielleicht von rechts und links)." (Bulletin du Comité pour la Quatrième Internationale, N°.2, 20. 9. 1940)
Die Mehrheit der französischen Anhänger der Vierten Internationale wartet also darauf, daß eine Fraktion der Bourgeoisie die "Volksmassen" in eine "Revolution von links oder rechts oder auch von links und rechts" führt; sie selbst bescheiden sich unterdessen, die "Reichtümer Frankreichs" zu verteidigen und vor allen Dingen "den großartigen Beitrag, den die fransösischen Schriftsteller und Gelehrten zum intellektuellen Erbe der Menschheit geleistet haben.“ (a.a.O.)
Es hilft nichts, wenn offiziöse Historiographen des Vereinigten Sekretariats einwenden, diese Politik sei später von internationalen Gremien der Vierten mißbilligt worden; das täuscht nicht darüber hinweg, daß von den Verantwortlichen fur diese Politik n i e m a l s eine grundsätzliche öffentliche Selbstkritik verlangt wurde! Auch nach der (nicht ganz vollständigen) Wiedervereinigung der französischen "Trotzkisten" Anfang l944 können die Führer der neuentstandenen Sektion nicht mit ihren kleinbürgerlichen Gewohnheiten brechen und sich der proletarischen Methode von Kritik und Selbstkritik anbequemen: Der komplette Bruch der Mehrheit der französischen Anhänger der Vierten Internationale mit dem proletarischen Internationalismus wird mit einigen euphemistischen Aperçus kaschiert, um die neuerrungene "Wiedervereinigung" nicht zu gefährden. Und gerade diese Sorte von "Wiedervereinigungen", die auf so wackligen Fundamenten stehen, daß sie nicht einmal einer offene Diskussion über die Fehler der Vergangenheit standzuhalten vermag, wirft ein bezeichnendes Licht auf das nicht-proletarische, nicht-bolschewistische, sondern kleinbürgerlich-individualistische Verständnis vom Charakter der kommunistischen Partei…
Wie wenig die französische Sektion eine Ausnahme war, beweist der Umstand, daß die sich nach dem Krieg neu strukturierende Internationale eine derart opportunistische und prinzipienlose Wiedervereinigung widerspruchslos hinnahm.
Aber auch während der revolutionären Nachkriegskrise selbst ist die französische Sektion nicht imstande, eine proletarisch-revolutionäre Linie zu verfolgen; wie die stalinistische und die sozialdemokratische Partei befindet sie sich im Nachtrab der "patriotischen" und "demokratischen" Bourgeoisie: Mit ihnen gemeinsam verteidigt sie die konstituierende Versammlung, und zum Beweis dafür, daß sie den Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse nicht mehr von dem der Bourgeoisie, daß sie die bürgerliche Demokratie nicht von der Diktatur des Proletariats unterscheiden kann, fordert sie die ständige Abwählbarkeit der Angeordneten des bürgerlichen Parlaments! Und obgleich sie den bürgerlichen Charakter des neuen Verfassungsentwurfes erkannt hat, ruft sie bei der Volksabstimmung von Mai 1946 auf, für die Verfassung der Vierten Republik zu stimmen – mit der Begründung, eine Ablehnung des Entwurfs wäre eine Niederlage für die (von ihrselbst mit Anführungszeichen versehenen) "Arbeiterparteien" KP und SP; sie hat also nicht nur die Politik des "kleineren Übels" wiederentdeckt, sondern nimmt die Spekulation über den möglichen Ausgang bürgerlich-demokratischer Wahlen als Richtschnur für die Politik der Arbeiterklasse.
Fazit: Die Vierte Internationale hat während des II. Weltkriegs die einmalige historische Chance vertan, nennenswerte Teile der Arbeiterklasse unter ihrer Fahne zu vereinigen und sich so wirklich zu einer kommunistischen Weltpartei, zu einer proletarischen Internationale zu entwickeln.
In die lange Periode der Nachkriegs-Prosperität tritt sie im wesentlichen ein als dieselbe internationale Föderation kleinbürgerlich-intellektueller Propagandagruppen, als die sie aus der Komintern hervorgegangen war.
IV. Eine letzte Chance
Ein neuer Anlauf wäre indessen noch immer möglich gewesen: Die trotzkistische Weltbewegung hatte selbstkritisch ihr Versagen während des Krieges analysieren müssen, hätte sich eingestehen müssen, daß sie den mit der Proklamation der Vierten erhobenen Anspruch nicht verstanden hatte, daß also der endgültige Aufbau der Vierten Internationale auch in der kommenden Epoche eine noch nicht bewältigte Aufgabe darstellte.
Stattdessen lehnte die trotzkistische Weltbewegung jedoch jede Selbstkritik ab. Sie heharrt auf der Fiktion, die historische Aufgabe der Schaffung der kommunistischen Weltpartei in ihrer eigenen Gestalt bereits verwirklicht zu haben. Der Schein, die bestehende internationale Verbindung der Trotzkisten sei bereits die Vierte Internationale, wird nicht bloß aufrechterhalten, sondern sogar noch verstärkt: Man bescheidet sich nicht mehr mit so maßvollen Titeln wie "internationale Konferenz“; die zweite internationale Zusammenkunft nennt sich stattdessen pompös "II. Weltkongreß der Vierten Internationale", und auch die Gründungskonferenz wird nachträglich umgetauft in "I. Weltkongreß". Als habe sie keine politische Niederlage im Weltkrieg erlitten, meldet sie lauthals ihren Anspruch auf alle Titel und Dekorationen der kommuninistischen Internationale an, betrachtet sie sich schon jetzt in jeder, auch in organisatorischer Hinsicht als die direkte Nachfolgerin der K.I.. Der "II. Weltkongreß" nimmt einen Statutenentwurf an, der sich von den auf der Gründungskonferenz beschlossenen dadurch unterscheidet, daß er statt dreizehn immerhin schon sechsundvierzig Paragraphen aufweist - und darüber hinaus eine wortreiche Präambel! Nach ihrer eigenen Aussage spiegelt "der Grad der ins Einzelne gehenden Konkretheit der Statuten" nicht nur "den großen Schritt vorwärts wieder, den die Vierte Internationale in den zehn Jahren seit ihrer Bildung gemacht hat", sondern auch "mit Genauigkeit den Grad der Zentralisation ..., den die Internationale erreicht hat bis zum nächsten Weltkongreß".
Den neuen Anfang in der Nachkriegsepoche eröffnet die trotzkistische Weltbewegung also mit einem gründlichen Selbstbetrug. Es kann nicht verwundern, daß sich der Aufbau der Vierten Internationale, die diesen Namen verdient, auf eiener solche Grundlage als ebenso unmöglich erweisen sollte wie auf der Grundlage der Vaterlandsverteidigung. Von diesem Zeitpunkt an erscheint es geboten, der internationalen Verbindung der Trotzkisten den Namen Vierte Internationale nur noch in Anführungszeichen gekleidet zuzuerkennen.
"Opportunismus äußert sich nicht nur in gradualistischen Stimmungen, sondern auch in politischer Ungeduld: Er will stets dort ernten, wo er nicht gesät hat, will Erfolge erzielen, die in keinem Verhältnis zu seinem wirklichen Einfluß stehen." (L.D., The First Five Year of the Communist International)
Nachdem man sich nun selbstgefällig als schon bestehender Generalstab der Weltrevolution definiert hatte, mußte doch alsbald auffallen, daß man dadurch noch keineswegs instand gesetzt war, auch als solcher zu handeln. Man hatte einfach übersehen, daß die proletarische Avantgarde eben nur die Avantgarde d e s P r o l e t a r i a t s sein kann; daß sich die revolutionäre Führung der Arbeiterklasse eben dadurchauszeichnet, daß sie auch wirklich f ü h r t - und das kann sie schlecht, solange sie außerhalb derselben steht. Die selbsternannte Führung mußte sich nun auf die Suche nach Geführten begeben.
Aber es sollte schnell gehen, und so sann man auf alle möglichen Abkürzungen - man wollte ernten, wo man nicht gesät hatte.
Als 1948 der Konflikt zwischen der Kreml-Bürokratie und dem Tito-Regime in Jugoslawien aufbrach, hoffte die "Vierte Internationale", sie könne eine Massenbasis dadurch gewinnen, daß sie sich zum Anwalt des Titoismus im Westen machte; indem sie Titos Kampf gegen die Kremlbürokratie mit einem Kampf gegen die Bürokratie überhaupt zu identifizieren schien, trug sie zu der Illusion bei, die politische Revolution in den vom Stalinismus beherrschten Ländern könne unter der Führung einer bestimmten Fraktion der Bürokratie selbst siegreich sein - eine Illusion, der sie schließlich selber verfallen sollte, als E. Germain im Herbst 1956 meinte, in Polen habe die politische Revolution "schon gesiegt". Die Anpassung an den Titoismus ist der Anfang sowohl eines Jahre andauernden Versöhnlertums gegenüber dem Stalinismus und der Sowjetbürokratie als auch der systematischen Nachtrab-Politik hinter "Massenbewegungen", die nicht nur außerhalb des revolutionär-marxistischen Programms, sondern sogar außerhalb der Arbeiterklasse entstehen. Die selbsternannte Avantgarde versucht nicht mehr, die Mehrheit der Arbeiterklasse dadurch unter ihrer Fahne zu vereinigen, daß sie in die Massen geht und dort offen für ihr Programm kämpft, sondern sie bevorzugt einen kürzeren Weg: Sie setzt sich fix und fertig von oben auf die "reale Massenbewegungen" drauf, so wie sie ist; dabei kümmert sie sich immer weniger um den Klassencharakter dieser Bewegungen; Tito ist damit nur der erste in der illustren Reihe Ben Bella, Castro, Mao, Guevara und Malcolm X.
Dieser auf internationaler Ebene praktizierte "Entrismus" findet nur allzu bald sein "nationales" Korrelat im Integrations-Entrismus in den sozialdemokratischen und stalinistischen "realen Massenbewegungen". Es muß nicht besonders hervergehoben werden, daß zwischen dieser Sorte Entrismus und der Taktik, der man zu Trotzkis Zeiten diesen Namen gab, ein Abgrund klafft.
(Hier bricht das maschinengeschriebene Manuskript des Referats ab. Es folgen einige handschriftliche Stichpunkte für einen mündlichen Vortrag zum Integrationsentrismus.
Die 1. nationale Konferenz der Internationalen Kommunisten Deutschlands fand im Dezember 1969 in Berlin statt und markierte den politischen Bruch der IKD mit der Organisation des Vereinigten Sekretariats, das auf der Konferenz durch E. Germain vertreten war.)